Sonntags bei Tiffany by Patterson James

Sonntags bei Tiffany by Patterson James

Autor:Patterson James
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 0100-12-31T23:00:00+00:00


SIEBENUNDDREISSIG

Klar im Kopf war ich erst wieder, als Michael und ich an diesem sonnenverwöhnten Sonntagnachmittag die Fifth Avenue entlanggingen. Ich kam mir wie in einem Wachtraum vor. Oder so ähnlich. Auf jeden Fall war es unglaublich und belebend und verwirrend.

Im Alter von sechs Jahren hatte ich Michael als lustig, klug und als wirklich netten Kerl erlebt. Doch jetzt, wo ich als erwachsene Frau mit ihm redete, wurde mir klar, dass er noch viel mehr Eigenschaften hatte. Auf jeden Fall war er ein hervorragender Zuhörer, was ihn an die Spitze all jener stellte, mit denen ich je was gehabt hatte.

»Erzähl mir alles«, verlangte er. »Alles, was ab deinem neunten Geburtstag passiert ist.«

Also erzählte ich und versuchte, mein Leben interessanter und aufregender klingen zu lassen, als es tatsächlich gewesen war. Es gefiel mir, ihn zum Lachen zu bringen, was mir während unseres Spaziergangs ziemlich oft gelang. Sobald wir ins Freie getreten waren, war er sehr locker und entspannt gewesen. Mir war es genauso ergangen. Mehr oder weniger.

Mit dem Bewusstsein einer Erwachsenen merkte ich, dass Michael das Leben und die Menschen liebte. Er konnte allem etwas Lustiges abgewinnen, und er akzeptierte es. Er konnte über sich selbst lachen, und er zählte sich selbst zu den Lachhaften. Er lachte mit den Menschen, nicht über sie.

»Wer war sie denn?«, erkundigte ich mich über die Brünette im St. Regis.

»Ich erinnere mich an keine andere Frau. Welche andere Frau?«, fragte Michael lächelnd. »Sie ist nur eine Freundin, Jane. Sie heißt Claire.«

»Nur eine Freundin?«

»Nicht so eine Freundin … auch keine andere.«

»Und was bedeutet der rote Fleck an deinem Hals? Ein Vampirbiss?«, wollte ich wissen. »Will ich das überhaupt wissen?« Nicht, dass ich eifersüchtig gewesen wäre. Wegen meines imaginären Kinderfreundes. Gott, ich denke, ich war echt – ganz echt – übergeschnappt. Nun, damit würde ich wohl leben müssen.

»Ich boxe ein bisschen«, erklärte er.

»Oh.« Ich versuchte ihn mir vorzustellen. »Ich trete täglich gegen meine Mutter im Ring an, also haben wir noch eine Gemeinsamkeit.« Er warf lachend seinen Kopf zurück. Auch ich musste lachen – die Freude war kaum auszuhalten.

Dies war eindeutig mein Michael, der Michael aus meiner Kindheit, doch jetzt, als Erwachsene, konnte ich ihn auf eine ganz andere Art genießen. Seine Intelligenz, sein Witz und sein Aussehen … mein Gott! Boxen und der Fleck an seinem Hals hatten auf unpolitisch korrekte Weise sogar etwas völlig Unmodernes. Sein Lächeln war immer ansteckend gewesen, hatte mich mit Glück erfüllt. Das tat es noch immer.

Auch wenn mein Herz auf Entdeckungsreise ging, ließ ich ihm Raum für die Möglichkeit, dass Michael jeden Moment verschwinden konnte, dass er sich plötzlich umdrehen und mir sagen könnte: »Du wirst mich vergessen, Jane. So funktioniert das eben.«

Aber so war es nicht gewesen. Vielleicht, so hoffte ich, würde er diesmal nicht wieder verschwinden.

»Ach, hier ist das Metropolitan Museum«, stellte Michael fest. »Es hat noch eine Stunde geöffnet.«

Waren noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen, seit ich hier drin einen meiner fürchterlichsten Abende verbracht hatte? Es kam mir wie ein Jahr vor. Doch ich wollte unbedingt mit Michael hineingehen.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.